Das Vaterunser aus der Schriftgießerei
Gerstenberg in Darmstadt
von Bernd-Ingo Friedrich
Es schuf uns einst die alte Zeitviel Schönheit in Gemächlichkeit.
(Karl Mahr)

Die Matrize für das abgebildete
Kabinettstückchen wurde in der Firma D. Stempel A.G. Frankfurt
angefertigt, die 1986 liquidiert und deren Bestand an Stempeln,
Schablonen und Matrizen von der Schriftgießerei des Druckmuseum
im Haus für Industriekultur Darmstadt, einer Abteilung des
Hessischen Landesmuseums, übernommen wurde. Zu dem Museum mit
Erlebnisbereich, wo man während der Öffnungszeiten den
„Druckmachern" bei der Arbeit zusehen kann, gehören außerdem
Hand- und Maschinensetzerei, Buchdruckerei und Werkstätten für
den künstlerischen Handdruck.
Die Schriftgießerei des Museums, die von Rainer Gerstenberg
zusammen mit einem Schweizer Partner gewerblich geführt wird,
ist weltweit das einzige Unternehmen dieser Art. Ihr Spektrum
reicht von Grotesk-, Egyptienne-, Schreib- und Frakturschriften
bis zu arabischen, kyrillischen, griechischen und hebräischen
Schriften, darunter historische Matrizen des 17. und 18.
Jahrhunderts, sowie Zeichen aller Art.
Dokumentiert sind die aufwendigen Herstellungsverfahren von
Matrizen als Gussformen für Buchdrucklettern wie auch die
Herstellung der Matrizen für die Linotype Zeilensetz- und
Gießmaschinen, deren alleiniges Herstellungsrecht die Stempel
A.G. innehatte. Die Schriftgießerei Gerstenberg GmbH ist die
letzte Schriftgießerei in Deutschland. Auf ca. 450 m2 Fläche
stehen hier über 50 Maschinen, die in Deutschland produziert und
exportiert wurden, und die nun, zum Teil durch die Vorbesitzer
in Italien oder Frankreich für ihre Bedürfnisse modifiziert,
zurückgekehrt sind. Die Schriftgießerei vereinigt das Inventar
von ca. 26 Gießereien, darunter ist mit der Haaseschen
(Münchenstein) die älteste Schriftgießerei der Welt. Ebenso in
den Bestand eingegangen sind Matrizen aus Italien (Nebiolo,
Turin) und Frankreich (Deberny-Peignot, Paris). Der
Maternbestand beläuft sich auf insgesamt 5 Millionen. Alle
Maschinen und Geräte funktionieren und werden benutzt.
Schriftgießer Rainer Gerstenberg ist heute in Personalunion:
Stempelschneider, Justierer, Matrizenbohrer,
Maschinenstempelschneider, Handgießer, Komplettgießer,
Höhenfräser, Fertigmacher und - die Teilerin (!). Diese neun
Teilberufe werden stilecht vorgestellt in Der Druckbuchstabe/
Sein Werdegang in der Schriftgießerei dargestellt in
Holzschnitten und Versen von Karl Mahr/ Neudruck nach der
Originalausgabe von 1928/ Schriftgießerei Gerstenberg GmbH.
Allerdings hat Rainer Gerstenberg nur noch runde fünf Jahre zu
arbeiten. Nachwuchs ist nicht in Sicht; der rapide Verfall der
klassischen Buchkultur legt die Gründung einer Stiftung nahe.
Kunden gibt es durchaus. Jacques Chirac, der sich nach wie vor
auch das Verspeisen der europaweit unter Artenschutz stehenden
Becassinen gönnt, hat sich hier seine Visitenkarten mit
ausgesuchten Typen im Handsatz herstellen lassen.
Die 16 x 9,8 cm große Klappkarte mit dem Vaterunser in 10 Punkt
(3,76 mm im Quadrat) wurde im Auftrag des Bibelmuseums Frankfurt
für die evangelische Kirche in Hessen und Nassau hergestellt.
Die Buchstaben, sonst in Punkt (1 Punkt = 0,376 mm) angegeben,
sind hier in dieser Maßeinheit nicht mehr erfassbar, sondern nur
in Mikrometern messbar. In der Vergrößerung 1:40 ist das
Vaterunser deutlich zu erkennen und gut lesbar.
