Redaktionsschluss 5. Oktober 2010

Wir gratulieren unseren Mitgliedern
Neue Mitglieder
Wolfram Körner 90 Jahre alt
Zur Erinnerung an Carlos Kühn
Einladung zum Jahrestreffen 2011 in Halle an der Saale
Das Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum
Exkursion nach Zerbst und Reppichau
„Der Struwwelpeter“ und sein Schöpfer Heinrich Hoffmann
„Eh’ ich’s vergesse“
Ein Werkstattgespräch
Rudolstadt
Volkskalender, populäres Massenmedium
Der Leipziger Bibliophilen-Abend feiert sein
     20jähriges Bestehen seit Wiedergründung

Im zwanzigsten Jahr nach seiner Wiedergründung
Die Kunst der Lithographie
 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wir gratulieren unseren Mitgliedern. Zum 60. Geburtstag: Helmut Rödner (Haarlem) am 7. 1., Ralf Parkner (Frankfurt/O.) am 6. 2., Christian Thiemann (Detmold) am 21. 2. Monika Kurth (Groß Teetzleben) am 26. 3. Zum 65. Geburtstag: Michael Krökel (Dortmund) am 29. 3. Zum 70. Geburtstag: Joachim Studier (Neustrelitz) am 22. 1., Bernd Illigner (Berlin) am 1. 2. Zum 75. Ge-burtstag: Prof. Axel Bertram (Berlin) am 26. 3. Zum 81. Geburtstag: Günter Karasek (Dresden) am 9. 2. Zum 83. Geburtstag: Curt Visel (Memmingen) am 5. 1., Prof. Dr. Lothar Lang (Grünheide) am 20. 3., Annemarie Verweyen (Mönchengladbach) am 21. 3. Zum 84. Geburtstag: Dr. Wolfgang Claassen (Essen) am 13. 2. Zum 85. Geburtstag: Prof. Dr. Bertram Winde (Königs Wusterhausen) am 1. 2. Zum 86. Geburtstag: Alfred Ringel (Berlin) am 19. 2. Zum 87. Geburtstag: Helmut Buske (Norderstedt) am 24. 1., Peter Kittel (Berlin) am 29. 1., Rolf Arndt (Radeberg) am 5. 2., Werner G. Kießig (Berlin) am 10. 2.

Neue Mitglieder: Michael Peise, Grundschullehrer, Eisenach. Mathias Proksch, Antiquar, Berlin.

Wolfram Körner 90 Jahre alt. Am 20. November feierte unser langjähriger Vorsitzender Prof. Wolfram Körner seinen 90. Geburtstag. Natürlich gehörte auch die Pirckheimer-Gesellschaft zu den Gratulanten. Manche Mitglieder werden einen Beitrag der MARGINALIEN zu diesem Jubiläum vermißt haben. Nun hat aber gerade er, dem jede Eitelkeit fremd ist, sich mehrfach gegen Ge-burtstagartikel in den MARGINALIEN ausgesprochen. Wir ehren ihn vielmehr – und er sich selbst auch – mit einer besonderen Veröffentlichung, denn er hat endlich unserem steten Fragen, Bitten und Drängen nachgegeben und im 90. Lebensjahr seine Erinnerungen Mit Skalpell und Lesebrille vollendet. Nur manches war davon schon durch einzelne Publikationen, Vorträge und Ausstellun-gen bekannt. Wir bereiten diese Erinnerungen zur Zeit für den Druck als Pirckheimer-Veröffentlichung vor, die den Mitgliedern als Gabe zugehen wird. Matthias Gubig hat die Gestal-tung übernommen. Es wird eine schmale Ausgabe in Broschur sein, mit zahlreichen Abbildungen von Exlibris und Neujahrskarten von Wolfram Körner. Geplant sind zwei Vorzugsausgaben: 50 Exemplaren liegt eine Originalgraphik von Walter Helfenbein bei, zum Aufpreis für Mitglieder der Pirckheimer-Gesellschaft von 20 Euro. Zehn Exemplare der zweiten Vorzugsausgabe (Aufpreis 40 Euro) enthalten zusätzlich zwei originalgraphische Neujahrsgrüße von Wolfram Körner, die er uns, wie auch die Radierplatte von Helfenbein, zur Verfügung gestellt hat. Auch wenn die Details noch nicht feststehen, können Vorbestellungen dieser Vorzugsausgabe bereits unter der E-Mail-Adresse goerdten@pirckheimer.org oder telefonisch beim Schatzmeister, Abel Doering, (Tel.: 030/96 518 862) vorgenommen werden.

Zur Erinnerung an Carlos Kühn. Nach kurzer schwerer Krankheit starb am 3. August 2010 in Berlin unser Mitglied, der Antiquar Carlos Kühn im Alter von 82 Jahren. Er verkörperte im gewissen Sinne viele Jahrzehnte (West)Berliner Antiquariatsgeschichte. Nach einem Studium an der Freien Universität begann er seine Antiquariatstätigkeit bei der Galerie Gerd Rosen, dann der Gale-rie Bassenge und kam über ein Düsseldorfer Intermezzo zum Antiquariat Carl Wegner in der Martin-Luther-Straße, das er 1972 übernahm. Die räumliche Nähe zum Rathaus Schöneberg und dem dort ansässigen Abgeordnetenhaus und Senat wirkte sich positiv auf die Entwicklung des Ladengeschäfts aus. Wehmütig berichtete Carlos Kühn in späteren Jahren davon, wie bei der Öffnung sei-nes Geschäfts am Montag manchmal schon die ersten Kunden vor der Ladentür standen, die von den gewöhnlich am Wochenende neu dekorierten Schaufenstern angelockt worden waren. Schon früh war er Mitglied des Berliner Bibliophilen Abends nach dessen Wiederbegründung geworden, später auch der Pirckheimer-Gesellschaft. Kontakte mit bibliophilen Freunden waren ihm bis zuletzt sehr wichtig, auch wenn sie keine Kunden waren. Bescheidenheit und Diskretion waren ihm wichtige Werte; er betrachtete sich stets als Vermittler und auch Helfer, und freute sich, wenn er, aus seinem reichhaltigen Wissen schöpfend, anderen Bibliophilen Informationen und Hinweise geben konnte. Vielen damals jungen Antiquaren stand er als Ratgeber, Helfer und Preisfinder zur Seite. Seine Kataloge waren immer präzise recherchiert und mit vielfältigen Anmerkungen versehen. Ich habe keinen anderen Antiquar so oft wie ihn im Katalograum der Universitätsbibliothek der FU Berlin getroffen, wo er in seiner eleganten, unverwechselbaren Schrift Karteikarte über Karteikarte beschrieb. Viele Berliner Sammler werden Bücher mit seinen charakteristischen Ein-trägen – er pflegte die Preise zu verschlüsseln – oder gar Briefe von ihm besitzen. Bei näherer Bekanntschaft überbrachte er in diesen Briefen auch gern Grüße oder Dank in selbst gereimten Versen zum Ausdruck.
Leider mußte Carlos Kühn im Alter auch noch die negativen Veränderungen der Berliner Antiquariatsszene miterleben. Der Wegzug der Verwaltungen aus dem Rathaus Schöneberg nach der Einheit entriß dem Ladengeschäft viele Kunden und verstärkte die wirtschaftliche Krise, die durch die zunehmende Verlagerung des Antiquariatsgeschehens ins Internet beschleunigt wurde. Ein Raubüberfall, bei dem er in seinem Laden niedergeschlagen wurde, war der Tiefpunkt seines Antiquariatslebens. 2002 übergab er den Laden an Mathias Proksch.
Seine – leider seltenen – Vorträge waren nur scheinbar amüsante Plaudereien, die aber immer mit exakten Hinweisen, reichhaltigem Anschauungsmaterial und umfassenden Kenntnissen unterlegt waren. Einen guten Eindruck davon vermittelte sein – nun letzter Beitrag – über Gottfried Benns Briefwechsel mit Alfred Richard Meyer im letzten Heft. Wer noch mehr aus Kühns Feder lesen will, dem sei sein Beitrag in dem Buch von Jürgen Holstein Bücher, Kunst und Kataloge empfohlen, in dem Kühn Erinnerungssplitter eines Katalog-Liebhabers ausbreitet. Wehmütig stimmt der dort abgebildete Umschlag seines Katalogs vom Herbst 1989, dessen Umschlag ein Selbstporträt des Antiquars schmückt: Carlos Kühn bei einem Glas Rotwein in seinem Laden. Tempi passati!
WK

Einladung zum Jahrestreffen 2011 in Halle an der Saale. Alle Mitglieder der Pirckheimer-Gesellschaft, aber auch interessierte Gäste, sind hiermit herzlich zum Jahrestreffen der Gesellschaft vom 24. bis 26. Juni 2011 nach Halle an der Saale eingeladen. Ein reichhaltiges Programm erwartet die Teilnehmer in der über 1200 Jahre alten Stadt.
Zum Programm gehören am Freitag (24. 6. 2011). Händel-Haus (Große Nikolaisstraße 5, 06108 Halle): 17-18 Uhr Anmeldung, anschließend Mitgliederversammlung. Sonnabend (25. 6. 2011). Melanchthonianum (Universitätsplatz, 06108 Halle): Vortrag von Dr. Ralf-Torsten Speler (Leiter der Zentralen Kustodie der Universität): Die Sammlungen der halleschen Universität. Dr. Ute Willer (Kunsthistorikerin), Kurzvortrag und Ausstellungseinführung: Die Stammbücher halle-scher Studenten. Anschließend Besichtigung der Ausstellung im Hauptgebäude („Löwengebäude“) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Führungen: Stadtführung, Stadtgottesacker – ein-malige Renaissanceanlage in der Art eines italienischen „Campo santo“, unter Leitung von Nickel Hoffmann 1558-1594 erbaut; Marienbibliothek – eine der ältesten evangelischen Kirchenbibliothe-ken in Deutschland; Universitäts- und Landesbibliothek Halle. Empfang durch die Oberbürger-meisterin der Stadt Halle, Dagmar Szabados. Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle, Bereich Buchkunst, außerdem Führungen durch die dort angesiedelten Ateliers und Werkstätten des Berei-ches Kunst. Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt, Führungen in der „Brücke“-Ausstellung (Sammlung Hermann Gerlinger) und den Dauerausstellungen. Händel-Haus – Einführung in die Ausstellung in Händels Geburtshaus, Rundgang und kleines Konzert, anschlie-ßend Buch- und Graphikauktion zugunsten der Pirckheimer-Gesellschaft. Sonntag (26. 6. 2011). Führungen in den Franckeschen Stiftungen einschließlich historischem Waisenhaus mit Kunst- und Naturalienkammer (einziges barockes Kuriositätenkabinett in Deutschland) und der Dauerausstel-lung zur Geschichte der Stiftungen sowie der historischen Bibliothek, die sich im ältesten erhalte-nen profanen Bibliothekszweckbau Deutschlands befindet. Festvortrag im Stadthaus von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Paul Raabe, Wiedergründer der Franckeschen Stiftungen und Ehrenbürger der Stadt Halle. Anschließend Festessen im avecio Restaurant; gegen 15 Uhr Abschluß des Jahrestreffens.
Es wird ein gedrängtes Programm sein, denn natürlich gibt es neben den hier genannten Punk-ten in Halle weit mehr zu sehen und zu erleben, so eine alle fünf Jahre durchgeführte Ausstellung des Halleschen Kunstvereins mit dem Titel Druckgrafik IV aus Halle an der Saale (mit zirka 60 Künstlern) im Künstlerhaus 188, das Opernhaus, das neue theater Halle, mehrere Antiquariate, das viel besungene Saaletal mit wieder sauberer Saale, die 3600 Jahre alte Himmelsscheibe im Lan-desmuseum für Vorgeschichte und mindesten zwei verführerische Kneipenstraßen ... Wir sind in Halle nur eine mittelgroße Pirckheimer-Schar, aber freuen uns schon jetzt auf das Jahrestreffen mit den Pirckheimern und interessierten Gästen aus der ganzen Bundesrepublik und darüber hinaus. Denn wir möchten bewußt machen, daß Halle wirklich die Kulturhauptstadt des Landes Sachsen-Anhalt ist und besonders für Kunst- und Kulturinteressierte sowie Bücherliebhaber viel zu bieten hat.
Vom 24. bis 26. Juni 2011 bestehen gemäß Vorabsprache folgende Übernachtungsmöglichkei-ten: 1. maritim Hotel Halle, Riebeckplatz 4. 06110 Halle (Saale), Tel. (0345) 5101-0 / Fax (0345) 5101-777. Stichwort „Treffen 2011 – Jahrestagung“, abrufbar bis 31. März 2011, Preis pro Nacht: Doppelzimmer 75 €, Einzelzimmer 55 €. / 2. Dorint – Charlottenhof Halle (Saale), Dorotheenstraße 12, 06108 Halle (Saale), Tel. (0345) 2923-0 / Fax (0345) 2923-100. Stichwort „Treffen 2011 – Jah-restagung“, abrufbar bis 24. Mai 2011; Doppelzimmer 98 €, Einzelzimmer 73 €. / 3. Dormotel Hal-le, Delitzscher Straße 17, 06112 Halle (Saale), Tel. (0345) 57120. Stichwort „Pirckheimer-Treffen 2011 – 24.-26. Juni 2011“, abrufbar bis 31. März 2011; Doppelzimmer 74 €, Einzelzimmer 57 €.
Die Anmeldung zum Jahrestreffen bitte bis 20. Februar 2011 an Dr. Ute Willer, Fleischmann-straße 7, 06114 Halle (Saale) oder willute65@web.de. Die Anmeldung wird durch die Zahlung des Tagungsbeitrages in Höhe von 65 € pro Person auf das Konto der Gesellschaft (Postbank Berlin, BLZ 100 100 10, Konto-Nr. 649 814 106) mit dem Stichwort „Halle 2011“ verbindlich; Zahlungs-ziel ist der 20. Februar. Bitte zu beachten: Die Kosten fallen auch bei nachträglicher Absage an, deshalb kann dieser Beitrag bei Nichtteilnahme nicht erstattet werden. Bitte also pünktlich anmel-den, alles hier Dargestellte bedenken und auch die „Gaben“ für die Auktion zugunsten der Gesell-schaft bei Anreise nicht vergessen!
Dr. Hans-Georg Sehrt

Das Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum zog erwartungsgemäß zahlreiche Interessenten an, als die Berlin-Brandenburger Pirckheimer am 16. September zu einer Führung eingeladen hatten. Mehr als 30 Bücherfreunde, darunter etliche Gäste, fanden sich in der abendlichen Stunde ein, um der kundigen Führung Elke-Barbara Peschkes zu folgen. Natürlich wußten alle vorab um den in den Medien ausgiebig gefeierten „architektonischen Höhepunkt“ Berlins des Jahres 2009, eben die Einweihung dieser neuen Zentralbibliothek der Humboldt-Universität – ein nahe dem Bahnhof Friedrichstraße gelegenes neunstöckiges, kühl-streng wirkendes Gebäude; ein „städtischer Mono-lith“, entworfen von dem Berliner Architekturbüro Max Dudler. Reger Besuch auch (und gerade) am Abend, die Bibliothek ist täglich bis 24 Uhr geöffnet, ein voll besetztes Café im Foyer, eine Schlange an der Garderobe, so die ersten Eindrücke, aber dann sogleich die hochmoderne automa-tische Mechanik bei der Anmeldung, bei Ausleihe und Rückgabe der Bücher.
Elke-Barbara Peschke geleitete die Gruppe mit Vorbedacht am Lift vorbei die Treppen hinauf. Beeindruckend die Durchblicke in das Herzstück, den zentralen Lesesaal und dessen Terrassen-struktur, alle Lese- und Computerplätze voll besetzt. Insgesamt, so war zu erfahren, sind 1200 Ar-beitsplätze verfügbar, wovon etliche zweckgebunden ausschließlich HU-Studenten vorbehalten sind. Von einem Glasdach überspannt, gestattet der Zentralraum die Aussicht auf den Himmel und den Blick auf die anderen Nutzer. Zugleich ist der unkomplizierte Zugang zu den reichen Frei-handbeständen gegeben: 1,8 Millionen Bücher stehen frei verfügbar bereit. – Die Bestände sichtba-rer zu machen, war eines der wesentlichen Anliegen Dudlers und darüber hinaus im ganzen Haus eine anregende Arbeitsatmosphäre zu gewährleisten.
Also Durchblicke, Einblicke, Ausblicke überall. Elke-Barbara Peschke verwies auf so manche architektonische Finesse, auf die zahlreichen Service-Angebote (Datenbank-Recherche, Kopier-, Druck- und Scan-Service …), auf die Nutzung von Medien aus Magazinen und Sondersammlun-gen, auf den Zeitschriften- und Zeitungsbestand, nachdrücklich auch auf die international gefragte sexualwissenschaftliche Sammlung des Haeberle-Hirschfeld-Archivs. Nebenbei führte sie uns Staunenden Anmeldung, Ausleihe und Rückgabe in Selbstbedienung vor. Auf persönlichen Wunsch ward sogar ein Blick in den Arbeitsraum der Bibliothekarin gestattet, und auch die „Kin-derstube“ im 7. OG fand Erwähnung, ein Arbeitsraum für Eltern mit Kindern. Gebührende Würdi-gung erfuhr der Forschungslesesaal im 6. OG und dort die Abteilung Historische Sammlungen, der Verantwortungsbereich Elke-Barbara Peschkes, aus dem uns Pirckheimern einige Raritäten präsen-tiert wurden: eine kostbare Inkunabel aus der Grimm-Bibliothek Vocabularius incipiens teutonicum ante latinum, bei Peter Drach in Speyer um 1485 gedruckt, und eine wunderbare Bibel von 1483 mit farbigen Holzschnitten und herrlichen Initialen.
Am Schluß wurden auch einige Wermutstropfen nicht verschwiegen: der sehr begrenzte Per-sonalbestand des Hauses angesichts der mehr als 5000 Besucher am Tag, schwierige Luftverhält-nisse im Gebäude, begrenzte Hoffnung auf die nötige Erhöhung des Etats … Alles in allem aber bedankten wir uns bei Elke-Barbara Peschke für einen lebendigen und überzeugenden Eindruck von einem der modernsten Bibliotheksbauten weltweit.
Ursula Lang

Exkursion nach Zerbst und Reppichau. Die diesjährige Sommerexkursion am 25. Juni 2010 be-scherte den halleschen Pirckheimer-Freunden überraschende Neuentdeckungen im heimatlichen Sachsen-Anhalt. Gründlich vorbereitet und organisiert von Hans-Jörg Märtens, Mitglied der hall-eschen Pirckheimer, erwartete die kleine Gruppe ein vielfältiges Programm in Zerbst und dem nicht weit entfernten Reppichau, dem Geburtsort des legendären Eike von Repgow, des Schöpfers des Sachsenspiegels.
Während die historische Altstadt von Zerbst im April 1945 durch einen verheerenden Bom-benangriff in Schutt und Asche gelegt wurde, blieb das 760 Jahre alte Franziskanerkloster wie ein Wunder vor dieser Zerstörung bewahrt. Ihm, dem Francisceum, galt unser Besuch. Noch heute be-findet sich eine Schule in seinen Mauern sowie das Museum der Stadt Zerbst und die berühmte Francisceumsbibliothek. Als Lehranstalt, zunächst als Lateinschule, wurde das Kloster seit der Re-formation genutzt, bevor es ab 1582 als „Gymnasium illustre" zur Anhaltischen Landesuniversität erhoben wurde. Als solche bestand sie 216 Jahre. Nach einigen Jahren der Schließung wurde die Bildungseinrichtung ab 1803 durch den Umbau der alten Klosterkirche erweitert und entwickelte sich unter dem neuen Landesherren Fürst Franz von Anhalt-Dessau zu einer fortschrittlichen Lehr-stätte im Geiste des Philanthropismus. Über alle Zeiten hinweg blieb das nach jenem Fürsten be-nannte Francisceum eine Schule. Diese interessante Geschichte seiner Entwicklung wie auch die theologischen Streitigkeiten zwischen den Lutheranern und Calvinisten, die diese Entwicklung ent-scheidend beeinflußt haben, wurde der Gruppe durch den Leiter des Museums, Heinz-Jürgen Fried-rich, lebendig und anschaulich vermittelt. Eine Treppe höher konnten sich die Besucher nun in elf Jahrhunderte Buchkunst vertiefen. Die sachkundige Einführung hierzu gab Petra Volger, Dipl.-Bibliothekarin der Einrichtung. Auch die Francisceumsbibliothek, die ihren Ursprung 1582 in der Zeit der Gründung des „Gymnasium illustre" hat, weist eine bewegte Entstehungs- und Entwick-lungsgeschichte auf. Heute verfügt sie über einen Bestand von 44 200 Bänden. Alte Pergament-schriften aus dem 10. Jahrhundert gehören ebenso zu den Schätzen der Bibliothek wie zahlreiche Inkunabeln, Gelehrtenschriften, Noten und Musikalien, Karten und Atlanten, alte Drucke aus dem 15. bis 18. Jahrhundert sowie eine umfangreiche Sammlung von Leichenpredigten. Die Schwer-punkte sind neben den Reformationsschriften mit bedeutenden Luther- und Melanchthon-Ausgaben heute die so genannten Anhaltinen, also Schriften zur anhaltischen Landesgeschichte.
Nach diesen überraschenden Einblicken folgte eine weitere Überraschung – das nahe gelegene Eike-von-Repgow-Dorf Reppichau und dessen Kunstprojekt Sachsenspiegel. Hier begegnete uns die Vergangenheit nun in „neuschöpferischer" Form, denn ein ganzes Dorf wurde hier zu einem Freilichtmuseum gestaltet, in dessen Mittelpunkt das mittelalterliche Rechtsbuch steht, dessen Schöpfer Eike von Repgow in Reppichau von etwa 1180 bis 1234 lebte. Neben einem Informati-onszentrum am Ortseingang und einem in einer alten Mühle untergebrachten Museum zu Eike von Repgow und zur Rechtsgeschichte ist das ganze Dorf ein einziges lebendiges „Bilderbuch" zum Sachsenspiegel. Die Motive dazu sind der Heidelberger Handschrift des Sachsenspiegels entnom-men und finden sich in teils überlebensgroßen und bemalten Metallplastiken am Dorfteich, in den Anlagen, der Kirche oder an den Straßenlaternen wieder, geschaffen von dem ortsansässigen Me-tallgestalter und Kunstschmied Frank Schönemann. Auch an Häuserwänden, Mauern und sogar an einem alten Trafo-Häuschen wurde in großen Bemalungen die bunte Welt des Sachsenspiegel zu neuem Leben erweckt und mit Schriftpassagen des alten Rechtshandbuches ergänzt. Engagiert führte Ines Schmidt vom Reppichauer Förderverein Eike von Repgow durch diese lebendige Viel-falt, die den gesamten Ort zu einem einmaligen Kunstprojekt macht – ein Kunstprojekt, das von vornherein darauf angelegt ist, keinesfalls nur Rechtswissenschaftler in seinen Bann zu ziehen, sondern vielmehr den Sachsenspiegel und seinen Schöpfer auf breiter Ebene populär zu machen. Und das ist der Gemeinde in einer selten einmütigen Zusammenarbeit überzeugend gelungen.
Ute Willer

„Der Struwwelpeter“ und sein Schöpfer Heinrich Hoffmann. Mit ihrer September-Veranstaltung begaben sich die halleschen Pirckheimer auf Kinderspuren. Dr. Ute Willer, (m)eine engagierte Mitstreiterin beim Erhalt der halleschen Pirckheimer-Gruppe, widmete sich einem The-ma, das ihr und einem großen Publikum erkennbar Freude bereitete: Der Raum in Halles Stadtbib-liothek war bis auf den letzten Reservestuhl gefüllt! Ihren von reichem Bildmaterial begleiteten Vortrag hatte sie in drei Kapitel gegliedert: 1. Heinrich Hoffmann. 2. Zu den Geschichten des Struwwelpeter. 3. Nachwirkungen und moderne Struwwelpeter.
Die Hallenser erfuhren nicht ohne Stolz, daß der berühmte Struwwelpeter-Hoffmann auch in Halle studierte und hier zum „Doktor der Medizin“ promovierte. Als Arzt und Vater wollte er sei-nen Kindern auf nicht zu trockene und moralisierende Weise mit Hilfe von erfundenen Bildge-schichten mit dazugehörigen Texten Erziehung zuteil werden lassen. Informativ waren bei der nä-heren Betrachtung der Bildgeschichten unter anderem die Zeitbezüge wie die Erfindung des Zünd-holzes mit den damit verbundenen Gefahren (Die gar traurige Geschichte mit den Zündhölzern) oder – auch heute bekanntlich von gleicher Aktualität – Die Geschichte von den schwarzen Buben, die der große Nikolas in ein Tintenfaß taucht, weil sie sich über einen „kohlrabenschwarzen Moh-ren“ lustig machen. Hoffmanns Rezept gegen die „triefende Moralpaukerei“ der Kinderbücher sei-ner Zeit ging auf. Auch wenn er den Struwwelpeter immer nur als „Nebending“ im Verhältnis zu seinen ernsthaften Veröffentlichungen betrachtete, war er auf seine Schöpfung durchaus stolz. So zeichnete er selbst seine medizinischen Abhandlungen teilweise mit „Dr.med. Heinrich Hoffmann, Verfasser des ‚Struwwelpeter‘“. Inzwischen gibt es mehr als 500 Auflagen allein im „Originalver-lag“ Rütten & Loening. Das Werk wurde in 40 Sprachen übersetzt, so in Japanisch, Chinesisch, Hebräisch und sogar Esperanto. Außerdem gibt es 60 Ausgaben in unterschiedlichen deutschen Dialekten.
Ute Willer stellte im letzten Teil ihres Vortrages eine Reihe von Nachfolgern des Ur-Struwwelpeter vor. Darunter befand sich die Ausgabe des leider zu früh verstorbenen Manfred Bo-finger, die im gleichen Verlag Rütten & Loening wie das Original herausgekommen ist, ein Struwwelpeter mit Versen von Hansgeorg Stengel und Bildern von Karl Schrader und eine ägypti-sche Variante, gegen die der Verlag Rütten & Loenig 1895 mit Erfolg rechtlich vorgegangen war, die aber inzwischen erscheinen konnte, sowie ein Anti-Struwwelpeter von Friedrich Karl Waechter, der im Diogenes Verlag Zürich 1982 mit reizvollen Vermengungen und Verdrehungen erschienen ist. Daß man sich den Struwwelpeter mit Erfolg auch für politische Zwecke nutzbar machen konn-te, zeigt die erstmals 1941 in England erschienene Parodie Struwwelhitler. A Nazi Story Book by Dr. Schrecklichkeit von Robert Spence u.a. - Ute Willer hat ihren Zuhörern einen unterhaltsamen Abend beschert, der als Gemeinschaftsveranstaltung der halleschen Pirckheimer mit der Stadtbib-liothek Halle zugleich ein kleiner Dank an unseren ständigen Gastgeber war, der seit einigen Jahren unsere regelmäßigen Veranstaltungen (ohne Miete!) ermöglicht.
Hans-Georg Sehrt

„Eh’ ich’s vergesse“. Die Erinnerungen Erich Ebermayers waren das Thema einer Veranstaltung des Leipziger Bibliophilen-Abend am 6. Juli 2010 im Leipziger Haus des Buches. Erich E-bermayer (1900–1970), Sohn des Oberreichsanwalts Ludwig Ebermayer am Leipziger Reichsge-richt, war Jurist und Autor, verbrachte nicht nur seine Jugend in Leipzig, sondern arbeitete später zeitweise auch für das Leipziger Theater. Als Schriftsteller mit einer besonderen Erzählbegabung und später auch als Drehbuchautor feierte er seit den zwanziger Jahren große Erfolge. Die Veran-staltung wurde mit einem kurzen Film über Erich Ebermayer und seinen langjährigen Wohnort Schloß Kaibitz in der Oberpfalz eröffnet, wofür dem Bayrischen Rundfunk zu danken ist. Im An-schluß berichtete der Herausgeber der Erinnerungen, Dr. Dirk Heißerer, Münchner Literaturwis-senschaftler und Träger der Thomas-Mann-Medaille, über seine Spurensuche und stellte den 2005 im LangenMüller Verlag erschienenen Band vor. Unterhaltsam trug er aus den Erinnerungen vor, die durch Freundschaften mit Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Klaus Mann und anderen ge-prägt sind. Aber ebenso thematisierte er das Verhalten des Autors im „Dritten Reich“. – Die An-kündigung der Veranstaltung fand Resonanz über den LBA hinaus. Teilnehmer legten dem Refe-renten unbekannte Typoskripte und Briefe des Autors vor.
Rainer-Joachim Siegel

Ein Werkstattgespräch stand am 6. September 2010 im Leipziger Bibliophilen-Abend auf dem Programm: Zur Vorstellung ihrer Pressendrucke und Künstlerbücher waren Rainer Ehrt (Klein-machnow) und der Leipziger Frank Eißner eingeladen. Beide haben viel Gemeinsames in ihrer Vi-ta, gehören der gleichen Generation an (Eißner geb. 1959, Ehrt geb.1960), haben vor ihrem Studi-um im Leipziger polygraphischen Gewerbe gearbeitet, kennen sich drucktechnisch also bestens aus, erfuhren an mitteldeutschen Hochschulen ihre künstlerische Ausbildung und Prägung (Eißner an der HGB Leipzig, Ehrt in Halle-Giebichenstein) und haben in den Wendejahren den Sprung in die selbständige Existenz gewagt (Eißner schon 1989, Ehrt 1993), wohl zu gleichen Teilen aus künstlerischem Antrieb und aus fehlenden Alternativen. Und beide haben sich inzwischen eine fes-te und anerkannte Position in der Welt der Buchkunst erarbeitet. Jedoch in ihren künstlerischen Techniken und ihren literarischen Präferenzen unterscheiden sie sich merklich. Eißner, der von der Tempera-Malerei kommt, arbeitet nahezu ausschließlich in der Technik des Farbholzschnittes (von der verlorenen Form), oft in gebrochenen, erdigen Tönen, flächenbetont. Seine Blätter finden über die Sinne, die Empfindungen, über meditative Tiefe zum Betrachter. Dem entspricht auch die Wahl der literarischen Vorlagen: Texte aus dem Alten Testament und der antiken Mythologie (Pandora), Traumgesichte einer Somnambulin, Novalis, Stadler. Gleichfalls inspiriert ist Frank Eißner von Musik, wovon Mappen zu Arvo Pärt und Jimi Hendrix zeugen.
Anders Ehrt, dessen Blätter von der Linie leben, von einem zupackenden zeichnerischen, flot-ten Strich in ironischem, satirischem, auch karikaturistischem Duktus. So sind auch seine Künstler-bücher häufig aus der (Farb-)Zeichnung geboren, in den kleinen Auflagen als Serigrafie, Offsetzeichnung oder Ätzung (Farb-Aquatinta) realisiert. Und auch die Holzschnitte, zum Beispiel beim Totentanz-Buch, werden deutlicher von den kräftigen Stegaturen und weniger von den weißen Binnenflächen bestimmt. Ehrts Bildfindungen suchen den Zugang zum Betrachter zuvörderst über die Ratio, über jenes lustvolle Spiel, das Brecht zu den größten Vergnügungen der menschlichen Rasse zählt. Die literarischen Vorlagen stammen von Autoren der Aufklärung, zum Beispiel Lichtenberg, und von Gegenwartsautoren wie Volker Braun, Stephan Hermlin, Karl Mickel, Heiner Müller. Auch Baudelaires Ikarus (in drei verschiedenen Verdeutschungen), Rilkes Marionetten und Texte von Kafka finden sich neben Erotica von Aretino bis Goethe. – Beide Künstler hatten reiches Anschauungsmaterial ausgebreitet, berichteten lebendig über ihren künstlerischen Werdegang, gewürzt mit Anekdoten aus den Hochschulzeiten, und informierten kenntnisreich über ihren Zugang zu den jeweiligen literarischen Vorlagen und die künstlerische Umsetzung. Mit der gebotenen Sorgfalt durften die interessierten Bibliophilen in den ausliegenden Drucken und Künstlerbüchern blättern und mit ihren Schöpfern ins Gespräch kommen, wovon reichlich Gebrauch gemacht wurde.
H. K.

Rudolstadt hieß das Ziel der Leipziger Bibliophilen bei ihrer diesjährigen Herbstexkursion am 25. September 2010. Im Schillerhaus wurden sie empfangen von Jens Henkel, der auch eine Einfüh-rung in die nach umfangreicher Rekonstruktion im Vorjahr eröffnete Schiller-Gedenkstätte gab. Das Rudolstädter Haus, ehedem Domizil der Familien von Lengefeld und von Beulwitz, ist eine der wenigen authentischen Schillerstätten in Deutschland. Im Jahr 1787 lernte Schiller dort seine spätere Frau Charlotte und deren Schwester Caroline, für die er ebenfalls mehr als Sympathie emp-fand, kennen. In der aufgeschlossenen geistigen Atmosphäre des Lengefeldschen Hauses verlebte Schiller einen glücklichen Sommer, überdies kam dort die erste Begegnung mit Goethe zustande. Auf diese beiden Ereignisse konzentriert sich das erfreulich frische museumspädagogische Kon-zept, welches das in den ehemaligen, stilvoll nachgestalteten, teils auch authentischen Wohnräu-men herrschende geistige Klima nachempfinden läßt.
Zwischen Besichtigung des Hauses und Mittagstisch gab es dann, gewissermaßen als Hors d'oeuvre, noch die Premiere des 40. Druckes der burgart-presse, eine mit Holzstichen von Karl-Georg Hirsch geschmückte Blütenlese zum sechzigsten Geburtstag von Matthias Biskupek. Aus dem allerersten Belegexemplar, soeben durch den »Boten« Felix Martin Furtwängler vom Buch-binder Ludwig Vater überbracht, las der Autor einige Texte. – Der Nachmittag gehörte Schloß Heidecksburg und insonderheit der Schloßbibliothek, deren Schätze von Jens Henkel, nun in seiner Eigenschaft als Mitarbeiter des Museums, vorgestellt wurden und sich als unerwartet reichhaltig und hochkarätig erwiesen. In fünf Räumen im Obergeschoß befinden sich die zirka 7000 Bände der historischen Büchersammlung des Fürstenhauses Rudolstadt-Schwarzburg, eine Bibliothek der Aufklärung, die Bestände bis etwa 1800 aufweist. Schwerpunkte sind Architektur, Naturwissen-schaften, natürlich auch die Autoren der Antike, schöngeistige Literatur und Pferdeliteratur. Aus allen Abteilungen wurden prächtige Exemplare gezeigt, so zum Beispiel die Luther-Bibel von Hans Lufft (1541) mit den Holzschnitten der Cranach-Werkstatt, die vier Foliobände der Collection of Etruscan, Greek and Roman Antiquities von Pierre François Hugues mit den großartigen Kupfern und die Lippertsche Daktyliothek (Sammlung von Gemmen) in drei Bänden mit je 1000 Abdrü-cken.
Einen wunderbaren Abschluß bildete der Besuch der Ausstellung Rococo en miniature – Die Schlösser der gepriesenen Insel. Gerhard Bätz und Manfred Kiedorf haben in den letzten 50 Jahren fünf Miniaturschlösser samt Innenleben und Personal im Verhältnis 1:50 errichtet und diese Phan-tasiewelt in ebenso geistreichen, historische und kulturhistorische Erläuterungen parodierenden Texten kommentiert. Ergötzlich auch die Auszüge aus dem Briefwechsel der ›Baumeister‹, die selbst während länger währender räumlicher Trennung ihre Königreiche weiter wachsen ließen, jeder für sich, aber in stetem Austausch und Wettbewerb. Wer es noch nicht gesehen hat, schaue sich das Video im Internet an und fahre dann nach Rudolstadt. – Nach diesem ereignisreichen Tag traten die Leipziger, trotz regnerischen Wetters in bester Stimmung, mit vielen guten Erinnerungen und Eindrücken die Heimreise an.
H. K.

Den Volkskalendern, populäres Massenmedium besonders im 18. und 19. Jahrhundert, heute von der Forschung trotz ihres Aussagewertes für die Alltagskultur vernachlässigt, widmete sich der Vortragsabend des Leipziger Bibliophilen-Abends am 5. Oktober 2010. Dr. Walter Müller, Halle, stellte im Haus des Buches seine auf die mitteldeutsch-sächsische Region konzentrierte Sammlung volktümlicher, bäuerlicher Haus- und Wirtschaftskalender vor. Deren Kern wiederum stammt aus der Nähe seines engeren Heimatgebietes, der Sächsischen Schweiz, an deren Rand, in Wehlen, Müller geboren wurde. Aufgewachsen in Stolpen, zur Schule gegangen in Pirna, sind es vor allem diese beiden Orte, deren Kalenderproduktion in seinem Sammelinteresse steht; hinzu kommt noch das benachbarte Neustadt. Eine bibliophile Initiation der besonderen Art – hat doch seine Sammel-tätigkeit begonnen im Alter von zwölf Jahren auf einer Mülldeponie vor einem schwungvoll abge-kippten Kalenderhaufen, den nicht vollständig abgetragen zu haben, den Sammler noch heute reut. Von diesen seinen sächsischen Bauern- und Hauskalendern hat Müller nicht nur erhebliche Quanti-täten zusammengetragen, er weiß auch Bemerkenswertes und Erstaunliches von ihnen zu berichten. Der mit reichem Bildmaterial in digitaler Präsentation begleitete Vortrag fand eine erfreut begrüßte Ergänzung durch die Auslage zahlreicher originaler Exemplare. Darin findet man neben dem obli-gatorischen Kalendarium haus- und landwirtschaftlich Relevantes, Alltagsempfehlungen, Ratschlä-ge für die Küche, unterhaltsam-anekdotische Beiträge, aber auch personen-, orts- und wirtschafts-geschichtliche Informationen.
Mit der Entwicklung der Technik wurden auch deren Neuerungen vorgeführt, und über Welthändel aller Art, Katastrophen, Stadtbrände und Kuriosa zu berichten, gehörte freilich zur genuinen Funk-tion dieser Publikationen. Trotz dieses sowohl funktional wie inhaltlich breiten Spektrums gibt es nur einige wenige buchwissenschaftliche Studien zu diesen Kalenderdrucken, auch Fragen zur Ges-taltung und zu den illustrativen Beigaben sind nicht näher untersucht. Müller bemerkte, daß außer der – heute von Evaluierung und Novellierung bedrohten – volkskundlichen Forschung kaum eine andere Disziplin sich dieses tief in der Geschichte des Buchdrucks verwurzelten Mediums ange-nommen habe. So bleiben etliche Fragen unbeantwortet und sind offensichtlich Forschungsdeside-rata: Wer kann dingfest gemacht werden als Urheber dieser Publikationen, woher stammen die dort verbreiteten Informationen, wer waren die Lithographen und Stecher, wer die Drucker? Allein das von Walter Müller vorgeführte Kalenderwesen in Pirna, in dem bis zu vier (!) Buchbinderfamilien im 18. und 19. Jahrhundert gleichzeitig (!) Kalender edierten, birgt eine Fülle merkwürdiger und teils noch unaufgearbeiteter Fakten. Die Zuhörer des Abends erlebten einen spannenden kulturhis-torischen Exkurs in wenig bekanntes Gelände, den sie mit wachem Interesse verfolgten und mit reichem Beifall aufnahmen.
Eberhard Patzig

Der Leipziger Bibliophilen-Abend feiert sein 20jähriges Bestehen seit Wiedergründung am 8. Januar 1991 auf mehrfache Weise. Zum einen vom 2. November bis zum 22. Dezember 2010 im Leipziger ›Haus des Buches‹ mit einer umfangreichen Ausstellung, in der die im letzten Jahr-zehnt herausgegebenen mehr als 50 bibliophilen Drucke gezeigt und an die im gleichen Zeitraum ausgerichteten 15 Ausstellungen erinnert wird. Wie die im Vorjahr im Gutenberg-Museum Mainz gezeigte Exposition steht auch diese wiederum unter dem Titel Augenweide & Leselust. Sie wird eingeleitet von Dr. Wolfgang Tittel, Vorsitzender des Kuratoriums ›Haus des Buches‹, und be-gleitet von einem Katalog mit vollständiger Bibliographie. Zum anderen werden sich die Leipziger Bibliophilen und ihre Gäste am 8. Januar 2011 in Leipzigs ›Alter Börse‹ zu einer Festveranstal-tung und anschließend im Café ›Michaelis‹ im Museum der bildenden Künste zu einem Fest-abend, zu Biß und Schluck und Buch und Bild, versammeln. Die Festrede von Jens Sparschuh steht unter dem Thema SchriftBild, welches auch der Titel einer neuen bibliophilen Reihe ist, die im Leipziger Bibliophilen-Abend ab 2011 erscheinen wird. Schließlich, zum dritten, wird auch wieder eine Festschrift ausgereicht, die, anschließend an Zehn Jahre LBA (erschienen 2001), über Das zweite Dezennium berichtet. Diese Festschrift enthält neben Bibliographie, Chronologie der Veran-staltungen und weiterem statistischen Material buchkundliche Beiträge von Stefanie Jacobs, Theo Neteler und Thedel von Wallmoden sowie Erstdrucke von Friedemann Berger, Angela Krauß, Günter Kunert, Richard Pietraß, Andreas Reimann, Helmut Richter, Ingo Schulze und Jens Spar-schuh. Getrüffelt ist die Festschrift mit zehn signierten Originalgraphiken von Horst Hussel, Joa-chim Jansong, Reinhard Minkewitz, Thomas M. Müller, Hermann Naumann, Volker Stelzmann, Klaus Süß, Michael Triegel, Kay Voigtmann und Klaus Waschk sowie mit vier signierten typogra-phischen Blättern von Thomas Glöß, Sabine Golde, André Grau und Matthias Gubig.

Im zwanzigsten Jahr nach seiner Wiedergründung legt der Leipziger Bibliophilen-Abend eine neue bibliophile Buchserie SchriftBild auf. Diese tritt an die Stelle der mit dem 20. Druck abge-schlossenen Serie der Leipziger Drucke und der mit der dritten Folge ebenfalls abgeschlossenen Reihe Stich-Wort und setzt die Intentionen dieser Ausgaben fort. In der Reihe SchriftBild werden pro Jahr zwei originalgraphisch ausgestattete Drucke erscheinen, vorzugsweise Erstdrucke aus der Feder von Gegenwartsautoren, aber auch klassische Texte, denen eine aktuelle Bedeutung beige-messen wird. Vorgesehen sind zunächst Texte von Jens Sparschuh, Thomas Rosenlöcher, Sten Na-dolny und Robert Musil. Wiederum deuten die beiden Wortteile des Reihentitels auf die Verbin-dung von Text und Bild, und ihre Zusammensetzung verweist auf den typographischen und buch-gestalterischen Anspruch. Wie bisher werden die Subskriptionspreise lediglich die Gestehungskos-ten decken und nicht über den bisherigen Rahmen hinausgehen. In Mittelung der früheren Aufla-genhöhen werden die Drucke in je 120 numerierten Exemplaren erscheinen, von denen etwa 20 Vorzugsexemplare sind. Die Subskription ist eröffnet, die Nummern werden in der Reihenfolge des Posteingangs vergeben. Anmeldungen richten Sie bitte an den Vorsitzenden des Leipziger Bibli-ophilen-Abends Herbert Kästner, Philipp-Rosenthal-Straße 66, 04103 Leipzig, oder über die E-mail-Adresse Kaestner_Lpz@online.de

Die Kunst der Lithographie. Der Steindruck stand im Mittelpunkt des Treffens der Regional-gruppe Rhein-Main-Neckar am 26. August in Hirschberg. Henner W. Harling referierte über die Erfindung Alois Senefelders und die Weiterentwicklung der Lithographie von der Reproduktions- zur Künstlergraphik. Einen hohen Stellenwert besaß der Steindruck auch im Buchdruck, sowohl im Bild als auch im Text. Anhand von teils recht großformatigen Originaldrucken des 19. Jahrhunderts stellte Harling die verschiedenen Techniken vor, wie Feder-, Kreide-, Umdruck-, Foto- und Chro-molithographie. Schöne Beispiele für gelungene künstlerische Illustrationsgraphik im Buch waren vorgelegte Werke von Charlotte Engelhorn, Rudolf Schlichter, Günter Horlbeck und Manfred Butzmann. Die Weiterentwicklungen hin zu Zinkographie, Alugraphie und letztendlich dem Off-set-Verfahren kamen zur Sprache. Zu einer lebhaften Diskussion führte die Frage der Abgrenzung zwischen Reproduktion und Künstlergraphik. Letztere sollte jedenfalls die Kriterien Abdruck vom Originalstein, Limitierung und Signierung umfassen. Erwünscht wäre weiterhin der Handdruck in der Werkstatt des Künstlers oder alternativ der Abdruck in fremder Werkstatt unter Aufsicht des Künstlers.
FP