Es war ja keineswegs so, dass Autoren aus dem Westen in der DDR nicht verlegt worden wären – im Gegenteil: Böll, Hemingway, Sartre, Moravia, Remarque und viele andere hatten ihre Auflagen. Allerdings waren die, obwohl man heute weiß, dass die DDR-Lizenznehmer nicht selten heftig mehr druckten, als mit den Lizenzgebern vereinbart war, gemessen an der Nachfrage immer zu niedrig. Das galt übrigens für nicht wenige sowjetische Schriftsteller – Tendrjakow, Rasputin, Schukschin, um nur drei zu nennen, – und DDR-Autoren wie Christa Wolf, Volker Braun und andere nicht minder. Deren Bücher waren Surrogat für vieles, woran es in der DDR mangelte – für nicht geführte offene Diskussionen über die gesellschaftlichen Probleme im Lande und für die geringe alltägliche Wahrhaftigkeit der Presse ebenso wie für die stark eingeschränkte individuelle Meinungs-, Rede- und Reisefreiheit und manches andere mehr. Zugleich waren diese Bücher, weil knapp, Bückware, die unter dem Ladentisch lag, und dorthin griffen – „bückten sich“ – die Buchhändler nur für auserwählte Kundschaft. Gehörte man nicht dazu, war die Jagd nach entsprechenden Titeln ausgesprochen frustrierend. Ein „guter Draht“ zu einem Buchhändler hingegen …
Es muss ein Samstag (von Montag bis
Freitag studierte ich in Potsdam) im Herbst 1975 gewesen sein,
als ich zum ersten Mal auf dem Marktplatz von Naumburg stand und
– das Rathaus zur Linken, das Schlösschen vor der Stadtkirche
von Sankt Wenzel, von dem ich in meinen insgesamt fünf
Naumburger Jahren nicht erfuhr, dass es eines war, im Rücken –
des Schaufensters der Buchhandlung von Erwin Kohlmann und seiner
Frau gewahr wurde. Was mich an neuen Orten damals stets am
meisten interessierte, waren die Buchläden. Nicht dass die
Auslagen und Regalbestände sich von Ort zu Ort großartig
unterschieden hätten, aber bisweilen wurde der beständige Jäger
und Sammler doch durch unerwartete Funde überrascht und erfreut.
Einen Versuch war es immer wert, und bei den Kohlmanns schon
deswegen, weil das Geschäft auch eine antiquarische Abteilung
beherbergte. Das verdoppelte gewissermaßen die Chance auf den
Erwerb ersehnter Autoren und Titel.
Ob meine erste Visite bereits von irgendeinem Erfolg gekrönt
war, vermag ich heute nicht mehr zu sagen. Meine Standardfrage
„Haben Sie …?“ richtete sich in der Regel auf Titel von Autoren
wie den eingangs erwähnten und führte ebenso in der Regel zu
Verneinungen. Es war eigentlich nie etwas vorrätig – zumindest
nicht für jemanden mit dem Malus eines Lauf- oder doch in jedem
Fall unbekannten Neu-Kunden. Und meine Anschlussfrage, wann denn
dieses oder jenes vielleicht möglicherweise …, wurde ein ums
andere Mal mit einem Schulterzucken des Nichtwissens quittiert.
Das wird bei den Kohlmanns nicht anders gewesen sein.
*
Natürlich noch nicht gewusst habe
ich seinerzeit, dass Erwin Kohlmann:
- der in DDR äußerst seltenen Spezies der privaten Buchhändler
angehörte, die es noch schwerer als die staatlichen
Buchhandlungen hatten, von den ewig unzureichenden Auflagen der
begehrten Autoren ein Deputatchen auf, respektive unter ihre
Ladentische zu bekommen;
- nach 1945 Aufträge seiner Mutter, Lebensmittel für die Familie
auf dem Schwarzen Markt einzutauschen, nicht immer befolgt,
sondern auch schon mal das wertvolle Tauschgut zum Erwerb eines
historischen Kartenspieles verausgabt hatte, woraus im Laufe der
Jahre eine beachtliche Sammlung resultierte, die der DDR manche
begehrte Devise bescherte, weil sich Reprints aus dieser
Sammlung, die Erwin Kohlmann später in einer Reihe „Historische
Kartenspiele“ herausgab, sehr gut in den Westen exportieren
ließen;
- nicht nur mit Büchern handelte, sondern auch ein
jahrzehntelanger erfolgreicher Sammler von Erstausgaben war –
der Travenschen in der Büchergilde Gutenberg der 20er Jahre
ebenso wie diverser Werke Kästners und Tucholskys, um nur einige
prominente Beispiele zu nennen;
- zusammen mit anderen gleich gesinnten Buchenthusiasten die
Pirckheimer Gesellschaft gegründet hatte und über seinen
Antiquariatsbuchhandel zum Beispiel dem Pirckkeimer-Bücherfreund
Werner Klemke des Öfteren seltene Erstausgaben besorgte, wodurch
er selbst im Gegenzug in den Besitz manch seltenen Klemke-Werkes
gelangte, darunter sehr hübsche Originale der berühmten
Deckblätter des legendären Magazins mit dem nicht
minder legendären schwarzen Klemke-Kater;
- auch ein Liebhaber von Antiquitäten war, wobei in diesem Falle
nicht von einfach altem Trödel die Rede ist, sondern zum
Beispiel von barockem Porzellan und von zum Teil noch älteren
Gläsern, die die Kohlmanns allerdings nicht in Vitrinen
verstauben ließen, sondern durchaus als das nutzten, wofür sie
einmal gedacht waren, als (noble) Alltagsgegenstände nämlich,
was in einen Gast, der erfuhr, dass die Tasse, die er gerade zum
Munde führte, ein sächsisches Produkt aus der Zeit Augusts des
Starken war, durchaus einen Moment ehrfurchtsvoller Schockstarre
fahren lassen konnte.
*
All dies erfuhr ich im Laufe der Zeit und manches erst angelegentlich eines Jahre später erfolgenden Besuches im Naumburger Domizil der Kohlmanns. Wovon ich jedoch sehr schnell einen Eindruck gewann, dass war der höchst erfreuliche Sachverhalt, das beide Kohlmanns nicht nur mit Büchern handelten, sondern diese auch lasen – und Zeitgenössisches dabei durchaus an vorderer Stelle –, so dass sie auch höchst kompetente Gesprächspartner zum Thema Literatur waren. Für mich damals noch jungen Studierenden wurden sie darüber hinaus zu Ratgebern, die mir den Weg zu manchem Autor und manchem Buch erschlossen, der sich mir sonst womöglich nicht eröffnet hätte. Heinar Kipphardt gehört in diese Abteilung – und insbesondere sein „März“, den ich bis heute mit auf die Insel oder ins Exil nehmen würde, selbst wenn die Auswahl sich auf zehn Titel zu beschränken hätte.
*
Jener ersten Samstag-Visite folgten
regelmäßige weitere. Ich erarbeitete mir gewissermaßen einen
Wiedererkennungswert bei den Kohlmanns, und diese honorierten
meine Hartnäckigkeit – wenn auch nicht durch Bückware, so doch
immerhin, indem ab und an das Wort an mich richteten. Wir kamen
ins Gespräch – über Gott und die Welt und auch über Bücher.
Heute bin ich mir fast sicher, dass ich damit so etwas wie einem
Kohlmann-Kunden-Eignungstest unterzogen wurde, denn mit
bestimmten Kunden war Erwin Kohlmann, nun sagen wir mal – eigen.
So eröffnete er mir in einem späteren, fortgeschritteneren
Stadium unserer Beziehung seine grundsätzliche Aversion gegen
einen speziellen Typ weiblicher Buchladenbetreter. Er nannten
diesen Typ „Löckchen-Kunden“ und meinte damit Frauen – etwa ab
vierzig aufwärts – mit onduliertem oder schwer dauergewelltem
Kopfhaar, deren literarisches Interesse sich auf genau zwei
Arten von Büchern beschränkte: Blumen- und Hunde-Bücher.
Wahrscheinlich war Erwin Kohlmann Geschäftsmann genug, um den
Verkauf auch solcher Bücher nicht grundsätzlich zu verweigern,
obwohl ich mir da nicht völlig sicher bin. Es könnte auch sein,
dass sich seiner Auffassung nach die Bezeichnung BUCH für
bestimmte Inhalte eigentlich verbot und dass es ihn als
gestandenen Buchhändler überdies beleidigte, wenn dergleichen
auch noch in seinem Laden nachgefragt wurde. Hinzu kam: Wenn es
in der DDR zwei Arten von Büchern gab, bei denen die Auflagen
gemessen an der Nachfrage noch sehr viel unzureichender waren
als bei den eingangs erwähnten Autoren, dann waren dies, man
ahnt es schon – Blumen- und Hundebücher!
An jenem Samstagmorgen, als Erwin Kohlmann mir Einblick in seine
Kundentypologie gewährte, betraten unmittelbar im Anschluss an
seine Ausführungen zwei Damen das Geschäft, die haargenau dem
soeben skizzierten Typ entsprachen. Möglicherweise war der Blick
des Buchhändlers bereits auf die beiden gefallen, als sie noch
die Auslagen durchs Schaufenster inspizierten, und dies hatte
ihn in Erwartung des, wie er aus langjähriger Erfahrung wusste,
nun zwangsläufig Folgenden zu seinen Erläuterungen animiert. Es
lief dann wie nach Drehbuch:
„Haben Sie nicht etwas Schönes mit Blumen?“
„Leider nein.“
„Und über Hunde?“
„Desgleichen.“
Und weg waren sie wieder.
Der Kohlmann-Kunden-Eignungstest, zu dem offenbar nicht jeder
zugelassen wurde, begann, ich erwähnte es bereits, mit
Gesprächen über Gott und die Welt und auch über Bücher. Das war
gewissermaßen Stufe eins. Die muss ich bestanden haben, denn
irgendwann folgte Stufe zwei: Ungefragt empfahl Frau Kohlmann
mir eines Tages das Buch eines ungarischen Autors, das und den
ich bis dato noch nicht zur Kenntnis genommen hatte – „Das
verschenkte Leben des Ferenc Makra“ von Ákos Kertész. Ich kaufte
und las es, und es gab mir zu denken und war von daher
anschließend ein guter Gesprächsstoff im Buchladen. (Ein Buch
übrigens, das man auch heute noch empfehlen kann, wenn es darum
geht zu zeigen, dass gesellschaftlich verordneter Konformismus
und individuelle Selbstentfaltung einen im Wortsinne tödlichen
Gegensatz darstellen können.)
Keine Ahnung, welche Figur ich auf Stufe zwei gemacht habe, aber
ganz schlecht kann sie nicht gewesen sein, denn was folgte, war
nicht Stufe drei, sondern eher schon so etwas wie eine Weihe,
eine Vor-Aufnahme in den Kreis der Auserwählten. Ich hatte mir
längst jenes stereotype Fragen nach Autoren wie den eingangs
erwähnten abgewöhnt, da es nicht lohnte, der Kohlmanns Zeit mit
dem Verneinenmüssen wegen Nichtvorrätigkeit zu vergeuden, als
wiederum Frau Kohlmann an mich herantrat, ein Buch in der Hand,
und mit einer gewissen Beiläufigkeit sagte, als wäre dies das
Normalste von der Welt, sie hätten da gerade einen Titel
hereinbekommen von Böll, Hemingway, Sartre …, ob mich dieser
interessierte. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich
mich weder an Autor noch Titel erinnern kann. Aber das Ereignis
an sich ist als überwältigend in Erinnerung geblieben. Die Tür
zum Paradies hatte sich geöffnet, und sie schloss sich, solange
mein Naumburger Intermezzo währte, nie mehr – im Gegenteil.
Zunächst kam es immer mal wieder vor, dass sie oder er an mich
herantraten, ein Buch in der Hand …, und irgendwann wurde ich
schließlich vom Laden in den rückwärtigen Bereich gebeten. Dort
lag auf einem Tisch ein Druckerzeugnis, von dem ich bis dahin
zwar gerüchteweise gehört hatte, dessen ich aber noch nie
angesichtig geworden war, geschweige denn, dass ich es in Händen
gehalten hätte: das Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel,
Leipziger Ausgabe*. Darin wurden in wöchentlichem Rhythmus alle
Neuerscheinungen sämtlicher DDR-Verlage versammelt. Und neben
dem Börsenblatt lag ein Bleistift … Ich trat in den Kreis der
Auserwählten ein.
*
1980 verließ ich Naumburg. Erwin Kohlmann ist 2001 verstorben. Ich habe ihn bis zu seinem Tode nicht wiedergesehen.
P.S.: Auch in den
antiquarischen Kohlmannschen Beständen wurde ich immer wieder
fündig. Einen Kauf allerdings habe ich mir aus finanziellen
Gründen versagt. Irgendwann war die 20-bändige deutsche
Pitaval-Ausgabe aus dem 19. Jahrhundert im Angebot – bis auf
einen fehlenden Band komplett und in ausgezeichnetem Zustand!
Keine Erstausgabe und daher mit etwas über 200,- Mark der DDR
ausgesprochen preiswert. Allerdings nicht für einen Studenten
mit monatlich unter 200,- Mark Stipendium (inklusive
Leistungsstip).
Den Verzicht habe ich lange bedauert. Bis heute bin ich nie
wieder auf ein solches Angebot gestoßen.
* – Dass man das Börsenblatt seinerzeit ganz einfach abonnieren konnte, war nicht bis zu mir durchgedrungen.
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